Beflügelt - zum Sonntag Quasimodogeniti

Liebe Schwestern und Brüder,

„zerbrechlich“, sagte die Kanzlerin am vergangenen Mittwoch, sei der Zwischenerfolg, der bei der Bekämpfung der Pandemie durch die Maßnahmen der letzten Wochen erreicht worden sei. Zerbrechlich – auch das noch. Wo doch schon so manches andere seit dem Beginn der Corona-Krise seine Zerbrechlichkeit durchscheinen ließ. Und da meine ich nicht in erster Linie unsere Gesundheit, von der uns leider ohnehin klar ist, dass sie zerbrechen kann.
Ich denke eher an Alltagsgewohnheiten, die wir sonst leben, ohne groß darüber nachzudenken, aber ebenso an die Mechanismen des globalisierten Wirtschaftens, oder an den Anstand (vergleichen Sie zum Beispiel mal die Preise, die für Schutzmasken im Februar aufgerufen wurden mit den heutigen), an die Solidarität in der EU und anderes mehr, das den Schleier des Felsenfesten kurz gelüftet hat. Gottlob meist wirklich nur kurz und ohne zu zerbrechen.
Da der erreichte Zwischenerfolg also - und dieser Einschätzung kann man wohl tatsächlich nur zustimmen - zerbrechlich ist, bleiben die Kontaktbeschränkungen im Grundsatz weiter bestehen. Dabei sind die Rufe nach Lockerungen in den Tagen zuvor immer lauter zu hören gewesen. Obwohl: das mag vielleicht auch daran liegen, dass eine ganze Reihe von Medien als Schalltrichter für die Lautstärke gerade dieser Rufe gesorgt haben. Es gibt auch die anderen Stimmen, die zur Geduld aufrufen.
Geduld werden wir wohl brauchen. Und einen langen Atem für die nächsten Monate des Wegs aus der Krise. Ermüdende Passagen könnte er haben, dieser Weg. Für die Großeltern, die ihre Enkel nicht in den Arm nehmen können (und umgekehrt), für die Eltern im Home-Office, deren Kinder tatsächlich die Schule vermissen, für die Bewohnerinnen und Bewohner in den Senioreneinrichtungen, für ihre Angehörigen, für Ärzte, Pflegekräfte und viele andere mehr.
Zerbrechlich also, aber immerhin: ein Zwischenerfolg! Er bringt erste zaghafte Schritte auf diesem Weg, erste Lockerungen für kleinere Geschäfte, den Schulbetrieb, für Zoos, botanische Gärten und Sportanlagen. Und wir haben die sehr erfreuliche Aussicht, dass wir, ebenfalls in absehbarer Zeit, wieder miteinander Gottesdienst feiern und gemeinsam beten können – auch wenn wir noch nicht genau wissen, mit welchen Verhaltensvorgaben.
„Zwischenerfolg“ – dieses Wort und die Lockerungen, die es mit sich bringt, bewirken etwas. Sie erweitern die Perspektive wenigstens ein Stückchen über den täglichen Blick auf die Infektionskurven hinaus.
Eine andere Perspektive einnehmen in einer schwierigen Situation ist meistens sehr hilfreich. Beraterinnen und Berater empfehlen ihren Klienten gelegentlich, doch einmal den bisherigen Blickpunkt zu verlassen und sich vorzustellen, „von oben“, gewissermaßen aus der Vogelperspektive auf sich und ihr Problem zu schauen, das Umfeld mit zu betrachten und auf diese Weise andere Möglichkeiten zu erkennen.
Das erweist sich häufig als gute Idee. Neu ist sie nicht.
Im Predigttext für den Sonntag Quasimodogeniti (Jesaja 40, 26-31) ist es der Prophet Jesaja, der die Israeliten beflügeln will, damit sie, wie aus der Perspektive eines Adlers, einen neuen Blick auf ihre Lage bekommen.
Und die war, vom Boden aus betrachtet, erst mal nicht rosig. Sie lebten als Gefangene in dem Land, in dem sie geboren worden waren. Ihre Eltern oder schon ihre Großeltern waren nach Babylon deportiert worden. Ihr unfreiwilliger Migrationshintergrund in der 2. oder 3. Generation, ihre andere Kultur und Religion machten sie zu chancenlosen Außenseitern, denen soziale Kontaktbeschränkungen auferlegt waren. An ihnen ging das Leben vorbei.
Man munkelte, der persische König Kyros II., den sie „den Großen“ nannten, habe sich in den Kopf gesetzt, die Welt zu erobern. Als nächstes sei Babylon dran. Dann könnten sie vielleicht aufbrechen in das Land, das ihre Eltern „Heimat“ nannten. Und was dann? Auch dort würden sie Fremde sein. Die Häuser und Felder ihrer Vorfahren würden längst andere in Besitz genommen haben. Sie, so dachten sie, hatten nichts zu erhoffen, ganz gleich wer gerade an der Regierung war. Ernüchternd, ermüdend war das, was in ihrer Blickachse als Zukunft erschien.
Sie waren überzeugt, dass sie aus Gottes Blickfeld verschwunden waren. So dachten sie. Bis auf einen. Nämlich den oben bereits erwähnten Jesaja.
Jesaja machte es ganz unruhig, wenn er sie so reden hörte. Denn er hatte andere Erfahrungen mit Gott gemacht. Und – was vielleicht noch viel wichtiger war – er hatte große Erwartungen an Gott. Er erwartete, dass Gott, der Schöpfer, den Menschen neue Kraft einhauchen würde – wie einst seinen Lebensatem. Jesaja erwartete, dass Gott, der so ganz anders ist als die Menschen, der niemals müde wird, die Müdigkeit der Menschen vertreiben wird, dass er ihnen neuen Mut schenkt.
Jesajas feste, große Erwartungen an Gott – die er „auf Gott harren“ nannte - beflügelten ihn. Sie ließen ihm eine neue Perspektive möglich erscheinen, die Rückkehr der Israeliten ins Land ihrer Vorfahren und dass Gott ihnen dort eine glückliche Zukunft aufrichtet.
Diese großen Erwartungen an Gott will Jesaja auch in seinen Landsleuten wecken, will ihnen Flügel verleihen. Er spricht ihre Sorgen, die er ja selber teilt, offen an, nimmt sie wahr und ernst. Aber er führt ihnen auch in eindringlichen, schönen Bildern vor Augen, wie Gott Flügel schenkt: „die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.“
Die Israeliten hören ihm zu, entdecken die Kraft, die Gott ihnen gibt und werden dabei gewissermaßen flügge. Sie kehren nach Israel zurück, bauen Häuser und Land neu auf.
Wie Jesaja harren sie auf Gott. Wir würden das vielleicht eher „Glauben“ nennen. Glauben heißt darauf zu vertrauen, dass Gott uns die nötige Kraft gibt, wenn wir sie brauchen, uns daran zu erinnern, wie Gott uns Mut gemacht hat. Glaube heißt auch, unsere kleine Kraft mit anderen zu teilen.
Für uns hat Christus dieses Vertrauen stark gemacht. Durch ihn sind wir hineingenommen in das Kraftfeld, das Gott bewirkt. Durch seine Auferstehung, an die wir gerade in der österlichen Zeit denken, können wir die große Erwartung haben, dass diese Kraft nie versiegt.
Ich bitte Gott darum, dass er uns lehrt, die Flügel, die er uns schenkt, auszubreiten und so eine Perspektive zu gewinnen, die bis ans Ende der Krise reicht – und weit darüber hinaus und ich freue mich darüber, mit Ihnen und Euch allen im Gebet verbunden zu sein, wenn unsere Vater Unser-Glocke läutet.

Bleiben Sie alle von Gott gesegnet und behütet.

Herzliche Grüße,

Ihr

Martin Bach