Vorbild Hirte - zum Sonntag Misericordias Domini

Vorbild Hirte - zum Sonntag Misericordias Domini

Liebe Schwestern und Brüder,

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn handelte sich vor einigen Tagen jede Menge Kritik und Häme ein. Ausgerechnet der oberste Gesundheitspolitiker der Republik wurde dabei fotografiert, wie er in der Uni-Klinik Gießen in einen Lift stieg. Und zwar gemeinsam mit etwa 10 weiteren Personen. An das Einhalten des Mindestabstands von 1,50m bis 2m war in dieser Kabine natürlich noch nicht mal zu denken. Weitere Teilnehmer der beachtlichen und viel beachteten Aufzugsfahrgemeinschaft waren unter anderem Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier, Kanzleramtschef Helge Braun, der Leiter der hessischen Staatskanzlei, Axel Wintermeyer, sowie Ärzte der Klinik – alles Menschen also, die die derzeit geltende Abstandsregel nicht nur besonders gut kennen, sondern auch immer wieder öffentlich dafür eintreten und werben.
Wie nicht anders zu erwarten, hielt der Journalist (Bodo Weißenborn), dem das bemerkenswerte Motiv vor die Linse gekommen war, die Kamera drauf und mit seinem Schnappschuss nicht lange hinter dem Berg. Unmittelbar nachdem er das Foto auf Twitter veröffentlicht hatte, schlug die Entrüstung hohe Wellen. Der Vorfall wurde gar der Polizei angezeigt.
Was wir hier beobachten konnten, ist ein echter Klassiker in neuem (Corona-)Gewand: wenn diejenigen, die Regeln formulieren und auf deren Einhaltung drängen, sich dann selbst nicht daran halten, erregen sie Unmut.  Was man von ihnen erwartet ist doch vielmehr, dass sie als gute Vorbilder auftreten, beispielhaft das richtige Verhalten vorleben.
Man kann das auch kurz zusammenfassen mit dem Satz, den einer meiner liebsten Freunde mit dem ihm eigenen schwäbischen Zungenschlag häufig deklamiert: „Entscheidend ist, dass das, was man sagt auch das ist, was man tut.“
Die Kritik an der dichtgedrängten Aufzugsfahrt ist also wohl berechtigt. Die Häme ist es, meine ich, nicht. Denn wahrscheinlich wir alle haben die neuen Regeln noch nicht so tief verinnerlicht, dass uns da keine Versäumnisse unterlaufen.
Umso mehr sind gute Vorbilder wichtig, gerade jetzt, wo durch die Pandemie neben den Sorgen um die Gesundheit unserer Lieben und das eigene Wohlergehen, auch Neues und Ungewohntes auf uns zukommt. Zum Beispiel hätten sich wohl die wenigsten von uns bis vor kurzem vorstellen können, beim Einkaufen einen Mund-Nase-Schutz zu tragen. Doch seit Corona gilt: Maske oder nicht Maske – das ist (in zugegebenermaßen sehr freier Anlehnung an Shakespeares Hamlet) hier die Frage. Oder besser: es war die Frage. Denn mit der ab Montag geltenden Maskenpflicht ist das Thema eigentlich durch.
Eigentlich. Doch trotzdem geht diesbezüglich immer noch kein Ruck, sondern eher ein Riss durch Deutschland, manchmal sogar quer durch Familien. Es wird gute Vorbilder brauchen – und zwar maskierte – um Vorbehalte abzubauen und zu zeigen, dass man sich nicht lächerlich macht, wenn man das schützende Accessoire anlegt, sondern dass im Gegenteil Maskenträgerinnen und –träger Verantwortung für andere zeigen, die sie damit vor Ansteckung schützen. Ich wünsche mir viele davon. Denn das gute Beispiel ist, wie Albert Schweitzer sagte, „nicht eine Möglichkeit, andere Menschen zu beeinflussen, es ist die einzige.“
Auf ein gutes Vorbild verweist auch der Predigttext aus dem 1. Petrusbrief (1. Petrus 2, 21-25), der diesem Sonntag, dem „Hirtensonntag“, zugeordnet ist. Alle Wochentexte stehen, wie auch der Predigttext, unter diesem Thema des guten Hirten. Der Wochenpsalm beginnt mit den berühmten, einzigartig tröstlichen Worten: „Der Herr ist mein Hirte…“. Im Wochenevangelium (Johannes 10, 11-16) spricht Jesus von sich selbst als dem guten Hirten. Schon die ersten Christinnen und Christen sahen in Jesus den Hirten gekommen, von dem der Psalmbeter des Alten Testaments gesprochen hatte, der gerade in dunklen Momenten bei seiner Herde bleibt, sie tröstet, ihnen Orientierung gibt und ihnen auch in schwierigsten Zeiten den Tisch bereitet.
Der Schreiber des ersten Petrusbriefs liefert auch einen Grund dafür, warum er gerade in Christus diesen guten Hirten sieht. Denn Jesus hat das getan, was einen Hirten auszeichnet. Er hat sich ganz eingesetzt für die Herde, die sich ihm anvertraut. Mit seinem ganzen Leben. Seinem Vorbild sollen, so heißt es im Predigttext, diejenigen, die ihm vertrauen, folgen. Sie sollen in seine Fußstapfen treten.
Ich meine, hier gilt es jetzt erst mal, zwei mögliche Missverständnisse zu vermeiden.
Das erste hat damit zu tun, in welchem Ruf Schafe bei uns stehen. In einem recht unterhaltsamen Interview mit einer Verhaltensforscherin habe ich neulich gelesen, dass es im Tierreich Einsteins und Dussel gibt. Wir neigen meist dazu, Schafe eher nicht in die Nähe der Einsteins einzuordnen. Wenn wir uns also dem Bild von Christus als dem guten Hirten anschließen, sind wir dann die etwas minderbemittelten Schafe, die ihm ohne eigenes Nachdenken hinterherlaufen? Wer das so versteht, übersieht dabei, dass die Zugehörigkeit zu dieser Herde eine Entscheidung voraussetzt: die Entscheidung, zu genau diesem Hirten gehören zu wollen, weil wir die zuversichtliche Gewissheit haben können, dass in ihm Gott selbst jedes einzelne Mitglied der Herde auf seinem individuellen Weg durchs Leben verlässlich begleitet.
Das zweite mögliche Missverständnis: wenn es im Predigttext heißt, dass wir in die Fußstapfen Jesu treten sollen und von ihm gesagt wird, dass er den Tod am Kreuz auf sich nahm, bedeutet das dann, dass wir, seinem Vorbild folgend, zum Märtyrertum bereit sein sollen? Hier gilt es zu bedenken, dass es einen deutlichen Unterschied gibt zwischen dem Hirten und den Mitgliedern seiner Herde. Wir sind nicht Jesus. Der entscheidende Unterschied ist gerade, dass er stellvertretend das Kreuz geschultert hat, und zwar damit wir von unserer Last befreit werden. Dem Schreiber des ersten Petrusbriefs geht es nicht um einen Aufruf zur Märtyrerschaft, sondern viel eher darum, seinen Lesern, die als Angehörige der verschwindenden christlichen Minderheit zu Beginn des 2. Jahrhunderts gesellschaftlich ausgegrenzt und staatlich verfolgt wurden, deutlich zu machen, dass ihr Hirte selber schwere Repressalien kennt, darin an ihrer Seite ist und die Aussicht schenkt, sie aus diesem finsteren Tal herauszuführen.
Demnach schlägt der Predigttext, wenn er dazu aufruft, dem Vorbild Jesu zu folgen und in seine Fußstapfen zu treten, uns vor allem eins vor: genau darauf zu schauen, wie Christus den Menschen begegnet ist und sich, im Rahmen dessen, was wir als Menschen mit unseren Begrenzungen schaffen können, nach seinem Hirtenstab auszurichten.
Die Richtung, in die dieser Hirtenstab zeigt, ist die Liebe, die Jesus vorlebte, wo er sich den Benachteiligten zuwandte, diejenigen, die an den Rand gedrängt wurden, in den Mittelpunkt stellte, darum warb, denen zu helfen, die Unterstützung brauchen. Dass viele Menschen sich gerade erkennbar an diesem Wegweiser ausrichten, für ältere Nachbarn einkaufen gehen, mit Telefonketten der Vereinsamung entgegenwirken und manches andere mehr, macht Hoffnung.
Den Maßstab des Hirten anzulegen bedeutet, darauf zu achten, dass keiner aus der Herde verloren geht. Das heißt dann auch, darauf zu achten, als Gesellschaft die Belastungen, die die gegenwärtige Krise für jeden Einzelnen auf unterschiedliche Weise mit sich bringt, gemeinsam und solidarisch zu schultern.
Es bedeutet, für andere da zu sein. In diesen Zeiten kann es schon ein guter Anfang sein, eine Maske anzuziehen, die das Gegenüber schützt.
Ich freue mich darüber, wieder mit Ihnen und Euch allen im Vertrauen auf den guten Hirten zum Gebet verbunden zu sein, wenn unsere Vater-Unser-Glocke läutet.
Bleiben Sie/bleibt alle von Gott behütet.

Herzliche Grüße,
Ihr/Euer

Martin Bach