Liebe Damen und Herren,
viele Stunden zu Hause zu verbringen, zusammen mit der Partnerin oder dem Partner und den Kindern – das ist ein Wunsch, den Menschen häufig äußern – besonders diejenigen, die im alltäglichen Getriebe des Berufslebens, das in „normalen“ Zeiten stattfindet, zu selten dazu kommen.
Gerade sind keine normalen Zeiten. Fast alle verbringen viele Stunden zu Hause. Mit der Partnerin oder dem Partner, mit den Kindern. Die Reaktionen darauf sind wechselnd und unterschiedlich.
Für einen Krisengewinnler in dieser Hinsicht hält sich augenscheinlich unser hochbetagter Kater Bhumipol. Ich erwähne ihn hier nur, weil viele von Ihnen – worüber ich mich sehr freue - sich in den Telefonaten der vergangenen Wochen nach seinem Befinden erkundigt haben. Er genießt erkennbar den ungewohnten Umstand, dass für den größten Teil des Tages mindestens einer seiner Dosenöffner in der Nähe ist und sich unverzüglich seiner Wünsche annehmen kann.
Sicher nutzen auch zahlreiche Paare und Familien die unverhoffte gemeinsame Zeit gerne und gestalten fröhlich ihr Zusammensein. Aber es gibt genauso das Gegenteil. Bereits Ende März warnten Experten in den Medien vor einem Anstieg von Fällen häuslicher Gewalt. Stressfaktoren in der für alle ungewohnten Ausnahmesituation, wie Ausgangsbeschränkungen, Kurzarbeit oder Zukunftsängste könnten dazu führen, dass Konflikte eskalieren.
Und selbst schon ein ganz banaler Streit findet angesichts von Corona-Auflagen unter zusätzlich belastenden Bedingungen statt. Laute Sprachlosigkeit, kalte Blicke, die unvermeidlich – man soll die Wohnung ja möglichst wenig verlassen – aufeinander treffen. Wenn man die Schuld, die einander trennt ansprechen könnte, die gegenseitige Wut aussprechen könnte, die aufs Herz drückt, vielleicht wäre dann ja Vergebung möglich, gegenseitig, ein neuer Anfang. Versöhnung.
Versöhnung, liebe Schwestern und Brüder, ist das Schlüsselwort im Predigttext für den Karfreitag aus dem 2. Korintherbrief (2. Kor. 5, 19-21). An diesem besonderen Tag lesen wir die Worte, die Paulus an die Gemeinde in Korinth schreibt, unter einem ganz eigenen Vorzeichen. Wenn der Apostel dort formuliert, dass Gott unter uns das Wort von der Versöhnung „aufgerichtet“ hat, dann lässt dieses Verb am Karfreitag vor unserem inneren Auge das Bild des Kreuzes entstehen, das aufgerichtet wird. Auf Golgatha.
Er, Jesus, hatte es selbst hinaufschleppen müssen auf den Hügel. Es war als weitere Demütigung gedacht, den Delinquenten dazu zu zwingen, das Instrument seiner eigenen Hinrichtung auf den Schultern zur Exekutionsstätte zu befördern.
Doch trotzdem, auch trotz der Hammerschläge mit denen sie ihn ans Kreuz nageln, wird nichts davon berichtet, dass Wut oder Groll in Jesus aufstieg. Nicht gegen den Statthalter, der seine Hände in Unschuld wusch, nicht gegen die Folterer, die ihm die Dornenkrone aufsetzten, auch nicht gegen die Henker, die hämmernd das Todesurteil gegen ihn vollstrecken.
Stattdessen: „Vater, vergib ihnen.“ Keine Wut. Kein Herausschreien der Schuld des anderen. Sondern Vergebung. Versöhnung.
Fast eineinhalb Jahrtausende später. Ein begabter und aufgeweckter junger Student stürzt in eine tiefe Krise. In Erfurt, wo er die Universität besucht, grassiert eine Epidemie, die Pest. Eine ganze Reihe seiner Kommilitonen und Professoren sind ihr zum Opfer gefallen. Und als wäre das nicht schon genug, kommt er auf dem Rückweg von einem Elternbesuch in ein schweres Sommergewitter. In Todesangst gelobt er, sollte er überleben, Mönch zu werden, dieser Martin Luther.
Er erfüllt sein Gelübde. Doch auch nach der Entscheidung für das Leben im Kloster quält ihn bei seiner Beschäftigung mit der Bibel, über die er nun selber an der Universität Vorlesungen hält, viele Jahre lang das Nachdenken über zwei Worte: Gerechtigkeit Gottes.
Der gerechte Gott, so ist Luther überzeugt, fordert von den Menschen Gerechtigkeit.
Was ihn kaum noch schlafen lässt, ist die Erkenntnis, dass kein Mensch, auch wenn er als Mönch lebt, die geforderte Gerechtigkeit leisten kann. Luther droht an dem so verstandenen Gott zu verzweifeln.
Was ihn rettet entdeckt er in den Briefen eben jenes Apostels Paulus. Er begreift, dass es sich mit der Gerechtigkeit Gottes genau anders herum verhält, als bei dem, was wir Menschen üblicherweise für gerecht halten. Die Gerechtigkeit Gottes ist nicht eine Gerechtigkeit, die Gott von uns fordert und nach der er uns als strenger Richter verurteilt. Es ist eine Gerechtigkeit, die Gott uns schenkt, aus seiner Gnade heraus, also: gratis.
Als ihm das klar wird, hat seine Quälerei, haben die Gewissensplagen ein Ende. Was er so ersehnt hat, ist schon längst da, von Gott in Christus aufgerichtet: Versöhnung.
Lucas Cranach der Jüngere hat versucht, in einem einzigen Bild den heilvollen Weg der Versöhnung von Christus über Luther bis zu uns und darüber hinaus – denn die Versöhnung hört niemals auf – zu zeigen. Er hat auf seinem Altarbild für die Stadtkirche St. Peter und Paul in Weimar Martin Luther, neben Johannes dem Täufer und sich selbst, unter dem gekreuzigten Christus auf Golgatha stehend dargestellt.
Das ist historisch betrachtet nicht korrekt, sondern um mehr als 1500 Jahre daneben. Gar keine Frage. Cranach wollte allerdings eben kein Historiengemälde schaffen, sondern vor allem zeigen, was das dargestellte Geschehen, die Kreuzigung Christi, bedeutet. „Sein“ Luther unterm Kreuz zeigt in der geöffneten Bibel, die er in der Hand hält, auf den Satz „Das Blut Jesu reinigt uns von allen Sünden.“
Dass Cranach sich selbst in die Gruppe unter dem Kreuz hineingemalt hat, ist übrigens keine Überheblichkeit. Er wollte sich stellvertretend für den „einfachen Mann“ gesehen wissen, also für alle Menschen. Denn das Angebot der Versöhnung, das Gott in Christus macht, gilt allen, auch uns. Darum geht es.
Während wir meist meinen, man könne vom Schuldigen doch wohl erwarten, dass er um Vergebung bittet, dass alle Verfehlungen auf den Tisch kommen, benannt werden und nicht ohne Folgen bleiben dürfen, bevor an Versöhnung überhaupt gedacht werden kann, ist das bei Gott genau andersrum. Er kümmert sich selbst um die Versöhnung. Er geht den ersten Schritt. Und er sendet, wie Paulus schreibt, Botschafter, die die Menschen darum bitten sollen, sich versöhnen zu lassen. Das stellt jede übliche menschliche Logik auf den Kopf. Aber sie ist heilsam, diese andere Logik. Sie wäre es bestimmt auch, wenn ein Streit sprachlos zu machen droht, in der Wohnung während der Krise.
Ich freue mich darüber, mit Ihnen und Euch allen verbunden zu sein im Nachspüren der Versöhnung durch das Kreuz Christi, an das wir erinnert werden, wenn an diesem Karfreitag unsere Glocke läutet.
Bleiben Sie alle von Gott behütet und gesegnet.
Herzliche Grüße,
Ihr Martin Bach