Neue Wirklichkeit - zum ersten Sonntag nach Trinitatis

Neue Wirklichkeit - zum ersten Sonntag nach Trinitatis

Liebe Schwestern und Brüder,

darauf, dass wir uns in einer „neuen Normalität“ werden einrichten müssen, hat als erster Politiker der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz hingewiesen. Ziemlich bald darauf, haben der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn und Bundesfinanzminister Olaf Scholz damit begonnen, diesen Ausdruck ebenfalls in ihren öffentlichen Äußerungen häufig und gerne zu benutzen.
Die drei hochrangigen Staatsdienerwollen uns dadurch darauf einstimmen, dass Beschränkungen des Alltagslebens und besondere Schutzmaßnahmen noch längere Zeit notwendig bleiben werden (und verwenden damit den Begriff in einem deutlich anderen Sinn als der Philosoph Paul Sailer-Wlasits, der ihn 2018 geprägt hat). Sie meinen also eigentlich eher eine neue Wirklichkeit.
Das Reden von der „neuen Normalität“ ist dabei vermutlich ein Versuch, schöne Worte für eine eher unschöne, aber unvermeidliche Sache zu finden.  Denn wenn etwas „neu“ ist, haftet ihm in unseren Ohren oft das Air des Progressiven und Interessanten an. Und wer kann schon etwas gegen Normalität haben?
Allerdings kam angesichts der Redewendung statt des gewünschten Airs ein relativ kräftiger Gegenwind auf.
Selbst die Einsichtigen, die ohne Weiteres erkennen und anerkennen, dass wir vorsichtig und rücksichtsvoll bleiben müssen, dass es bestimmte Maßnahmen eben braucht, um Leben zu schützen, waren durch die Wortwahl „neue Normalität“ – zurückhaltend formuliert – irritiert.
Deshalb wird seitdem in den Verlautbarungen eher von „verantwortlicher Normalität“ gesprochen. Ob das ein besserer Ausdruck ist?
Vielleicht liegen die Vorbehalte eher am Begriff „Normalität“ und daran, dass es einfach schwerfällt, auf manches Liebgewordene oder Gewohnte, auf Freiheiten zu verzichten und diesen Verzicht dann als normal anzusehen.
Unumgänglich ist er dennoch – damit wir das Leben und die Gesundheit von Menschen so gut wie möglich schützen. Trotzdem sehnen sich viele eher nach den guten alten Zeiten als nach der „neuen Normalität“, nach den Vor-Corona-Zeiten, als unsere Freiheit beinahe so grenzenlos wie über den Wolken zu sein schien.
Obwohl: wirklich alt sind diese Zeiten eigentlich gar nicht, gerade mal ein Quartal liegen sie zurück – und ob wirklich alles daran gut war?
Doch scheinbar neigen wir Menschen – vor allem, wenn wir älter werden - immer wieder dazu, uns nach früheren Zeiten zu sehnen. Jedenfalls klingt der Predigttext für den ersten Sonntag nach Trinitatis (Apostelgeschichte 4, 32-37) auf den ersten Blick beinahe danach, als sei das schon in biblischen Tagen so gewesen.
Hier in seiner Apostelgeschichte, dem ersten Geschichtsbuch der Christenheit, schreibt Lukas über die Urgemeinde in Jerusalem. Und gerade dieser Abschnitt daraus wurde sehr bekannt und hat für erregte Debatten gesorgt. Es war dabei viel vom sogenannten „urchristlichen Liebeskommunismus“ die Rede.
Die Einen frohlockten, sie hätten ja immer gewusst, dass bereits die ersten Christen Kommunisten gewesen seien. Die Anderen stöhnten, sie hätten sowas schon befürchtet – und eine Schleierwolke trübte ihren Glauben ein. 
Die Aufregung ist völlig unbegründet. Was Lukas hier über die Urgemeinde schreibt, hat mit Kommunismus nichts zu tun.
Lukas beschreibt eine freiwillige Gütergemeinschaft. Und zwar vor dem Hintergrund einer ganz bestimmten Situation und im Bewusstsein einer festen Gewissheit.
Ein großer Teil der kleinen Schar der ersten Jerusalemer Gemeindeglieder stammte aus dem Norden, aus Galiläa. Sie hatten dort alles aufgegeben und zurückgelassen, um sich Jesus und seinen Freundinnen und Freunden anzuschließen. In Jerusalem waren sie mittellos. Und als gelernte Bauern oder Fischer konnten diese Menschen vom Land ihren Lebensunterhalt in der Stadt nicht leicht verdienen. In dieser Situation rückte die Gemeinde so eng zusammen, dass sie, von hier stammt unser Sprichwort, „ein Herz und eine Seele“ war.
Diejenigen, die Land oder Häuser besaßen – damals wie heute durchaus nicht selbstverständlich – erkannten, was sie im Vergleich zu ihren Schwestern und Brüdern hatten und stellten ihren Besitz der Gemeinschaft zur Verfügung, damit für alle genug da war.
Und es kam ja noch etwas ungeheuer Wichtiges hinzu: gemeinsam hatten sie – im wahrsten Sinne des Wortes – eine Mission zu erfüllen. Der auferstandene Christus hatte ihnen den Auftrag dazu erteilt. Unter allen Völkern sollten sie in seinem Namen predigen, wie Lukas ganz am Ende seines Evangeliums, das seiner Apostelgeschichte ja direkt vorausgeht, berichtet.
Unter allen Völker predigen - dafür braucht man Geld. Da müssen Kosten, vor allem die Reisekosten gedeckt werden. Aber diese Sache war ihnen jeden Cent, oder besser: jeden Sesterz und jeden Schekel wert. Denn es ging um ganz außerordentliche Neuigkeiten.
Christus ist auferstanden und hatte versprochen, bei ihnen zu sein. Und an Pfingsten hatten sie alle hautnah miterlebt, wie Gott durch seinen Geist gegenwärtig ist und wirkt.
Nun brannten sie darauf, diese Nachrichten unter die Menschen zu bringen. Denn sie waren davon überzeugt: diese beiden Ereignisse, Christi Auferstehung und die Ausgießung des Heiligen Geistes, haben die Welt fundamental verändert. Dadurch ist eine neue Wirklichkeit entstanden.
Womit wir jetzt beim spannendsten Teil der Geschichte wären. Denn plötzlich zeigt sich ganz deutlich, dass Lukas hier eigentlich gar nicht von alten Zeiten schreibt. Sondern von ganz aktuellen.
Weil Christi Auferstehung bis heute gilt und auch in Zukunft. Und weil Gott niemals damit aufgehört hat, durch seinen Geist schöpferisch zu wirken – und auch nicht damit aufhören wird.
Durch Ostern und Pfingsten hat Gott eine wahrhaft „neue Normalität“ oder sagen wir besser: eine neue Wirklichkeit geschaffen. Sie hält an, bis heute und bis Gott sein Reich vollenden wird.
Die ersten Christinnen und Christen damals in Jerusalem haben aus dieser Erkenntnis Konsequenzen gezogen.
Und weil ja auch wir in dieser neuen Wirklichkeit leben, lohnt es sich, diese Konsequenzen genauer unter die Lupe zu nehmen.
Als erste davon nennt Lukas: die Gemeinde war „ein Herz und eine Seele.“ Das bedeutet übrigens nicht zwangsläufig, dass sie alle Best Buddies, die dicksten Kumpel waren. Darum geht es nicht.
Was die Gemeinde zu einem Herz und einer Seele werden lässt, ist das Bewusstsein, dass alle darin im entscheidenden Punkt geeint sind: in ihrem Glauben an Christus. Als so Verbundene stärken und unterstützen sie sich gegenseitig.
Für unsere Gemeinde in derselben neuen Wirklichkeit damals wie heute ist das entlastend und ermutigend zugleich. Entlastend, weil die Verbindung auch funktioniert, wenn mein Nachbar in der Kirchenbank – der dort natürlich mit gebührendem Corona-Abstand sitzt – nicht mein allerengster Freund oder meine allerbeste Freundin zu werden verspricht. Die Verbindung durch den Glauben lässt mich nämlich dennoch darauf achten, wo er oder sie mich, meinen Zuspruch oder meine Unterstützung braucht.
Und ermutigend ist das, was Lukas von der ersten Gemeinde schreibt, weil daraus deutlich wird, was aus einer kleinen Gruppe von ein paar Handvoll Glaubenden entstehen kann. Trauen wir uns also ruhig, als Gemeinde unseren Glauben weiterzusagen.
Die zweite Konsequenz, die die Jerusalemer Urgemeinde zog, war die freiwillige Gütergemeinschaft. Auch wenn dieses Modell vielleicht nicht zur heutigen Gemeindewirklichkeit passen mag und selbst wenn wir hier heute im Vergleich zu damals in einem Land leben, in dem es vielfältige soziale Absicherungen gibt, bleibt der Blick darauf, was ich, im Vergleich zu manch Anderem, alles habe immer noch wichtig.
Ich kann dann nämlich erkennen, dass es auch heute in Deutschland ältere Menschen gibt, deren Rente kaum zum Leben reicht, Familien, die ihren Kindern nicht alles bieten können, was für einen optimalen Start ins Leben nötig wäre oder gerade aktuell Menschen, denen durch die Krise alle Einnahmen weggebrochen sind – die Beispiele ließen sich leicht vermehren.
Und gleichzeitig kann ich, wenn ich aufmerksam hinschaue, erkennen, welche Möglichkeiten es gibt, um wirksam zu helfen.
Weil aber die neue, durch Ostern und Pfingsten gesetzte Wirklichkeit, so weite Zeiträume überdauert und die ganze Welt umspannt, müssen wir hier auch deutlich über die heutige Gemeinde vor Ort hinausdenken.
Christinnen und Christen aus der ganzen Welt und beinahe allen Konfessionen haben deshalb vor 72 Jahren in Amsterdam die Konsequenz, die sie aus der neuen, durch Ostern und Pfingsten gesetzten Wirklichkeit gezogen haben, auf den Begriff „verantwortliche Gesellschaft“ gebracht. Das ist etwas ganz Anderes, als die „verantwortliche Normalität“, von der heute gesprochen wird.
In einer verantwortlichen Gesellschaft verstehen Menschen ihre Freiheit als Verpflichtung dazu, Verantwortung für gerechte Verhältnisse zu übernehmen. Und diejenigen, die Autorität oder Macht haben, wissen sich den davon betroffenen Menschen und Gott gegenüber verantwortlich.
Aktuell stehen jede Menge wichtiger Fragen an, bei denen es sich lohnen würde, sie aus diesem Blickwinkel zu betrachten.
Zum Beispiel die Frage nach der gerechten Entlohnung für Menschen, die in Berufen arbeiten, deren Bedeutung erst in der Krise wirklich erkannt wurde. Oder ob, im Sinne einer generationenübergreifenden Verantwortung, eine neue Abwrackprämie, wie sie zurzeit diskutiert wird, wirklich das geeignete Mittel ist.
Und – gerade besonders drängend – was dagegen getan werden kann und muss, dass Menschen andere Menschen wegen ihrer Hautfarbe herabsetzen und geringschätzen. Zur neuen, von Ostern und Pfingsten bestimmten Wirklichkeit steht das nämlich in krassem Widerspruch.
Und noch etwas ergibt sich aus dieser Botschaft von der neuen Wirklichkeit. Etwas, das wirklich froh macht.
Denn sie bedeutet ja, dass der Auferstandene bei uns ist und dass Gott uns mit seinem Heiligen Geist, dem Tröster, begleitet.

Bleiben Sie/bleibt alle von Gott behütet.

Herzliche Grüße,

Ihr/Euer

Martin Bach

 PS: Seit dem 10. Mai laden wir in der Friedenskirche wieder ganz herzlich zu unseren regelmäßigen Gottesdiensten ein. Im Rahmen des geltenden Hygieneschutzkonzepts bitten wir alle, die teilnehmen möchten, sich bis jeweils zwei Tage vorher beim Pfarramt unter Tel.: 06332/75125 oder per E-Mail anzumelden.

Prot. Pfarramt Zweibrücken-Ixheim
Pfarrer Martin Bach
Kirchbergstraße 31
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Tel.: 06332/75125
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