Gottes bleibende Barmherzigkeit - zum zehnten Sonntag nach Trinitatis

Gottes bleibende Barmherzigkeit - zum zehnten Sonntag nach Trinitatis

Liebe Schwestern und Brüder,

die Kenner unter Ihnen wissen es längst: die in der Regel alle 10 Jahre stattfindenden Oberammergauer Passionsspiele sind für 2020 abgesagt – oder genauer ausgedrückt: auf 2022 verschoben. Das Landratsamt Garmisch-Partenkirchen hat im Mai per Bescheid die Aufführungen aufgrund der Corona-Pandemie untersagt. Aber auch die Oberammergauer selbst hatten da bereits ihre Meinung geändert und sich entschlossen, die Passion zu verschieben.
Das war sicher verständlicherweise erst mal eine Enttäuschung für die vielen Menschen, die bereits Karten erworben und ihr Übernachtungsarrangement gebucht hatten. Aber die Vorfreude auf 2022 tröstet hoffentlich ein wenig darüber hinweg.
Außerdem war diese Entscheidung ja nur eine von vielen Meinungsänderungen, die wir in diesem besonderen Jahr beobachten konnten und können. Ob Maskenpflicht in den Schulen, Personenbegrenzungen bei Veranstaltungen oder bei der Frage, wer wann getestet werden sollte – immer wieder haben Experten und Politiker bei diesen und anderen Themen ihre Meinung geändert.
Nun könnte man ja einfach achselzuckend sagen, dass Meinungsäußerungen in der deutschen Politik schon rein traditionell hin und wieder eine kurze Halbwertszeit haben (Konrad Adenauer: „Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern.“). In diesen Monaten allerdings verunsichern allzu häufige Richtungswechsel doch mehr als sonst.
Bei den Oberammergauer Passionsspielen kam es übrigens im Lauf ihrer Geschichte seit 1634 immer wieder zu Meinungsänderungen. Zum Beispiel vor genau hundert Jahren. Da wurden die Aufführungen wegen der Folgen des Ersten Weltkriegs ebenfalls um zwei Jahre, auf 1922, verschoben.
Der hartnäckigste Prozess der Meinungsänderung aber betraf den Text des Spiels. Diese Kontroverse konnte ich, weil meine Familie dem Dorf Oberammergau eng verbunden war (und eigentlich noch ist), schon als Kind und Jugendlicher verfolgen.
Hintergrund der Debatte war, dass die im Lauf des 19. Jahrhunderts entworfene Textfassung antjudaistische Passagen enthielt. Deshalb entzog der Vatikan den Spielen von 1970 seine Zustimmung (Missio canonica). Aber dennoch beharrten die Oberammergauer auch bei den weiteren Spielen in – heftig diskutierten - Bürgerbefragungen immer wieder, von kleinen Änderungen abgesehen, auf dem hergebrachten Text.
Erst bei den Passionsspielen des Jahrs 2000 konnten, nach dramatischen Kontroversen um den Spielleiter und dank seines Durchsetzungsvermögens, die antijudaistischen Auslassungen im Text glücklicherweise getilgt werden.
Einen Prozess der Meinungsänderung hinsichtlich des Verhältnisses der Christinnen und Christen zum Volk Israel können wir auch am Predigttext für den 10. Sonntag nach Trinitatis, den Israelsonntag, verfolgen. Und zwar anhand einer Passage aus dem Römerbrief (Römer 11, 25-32).
Als Paulus, wohl während seines Aufenthalts in Korinth im Winter des Jahres 56 n.Chr., diese Zeilen für seinen Brief an die Christen in Rom formulierte, hatte er bereits einen langen Weg hinter sich, auf dem sich seine Meinung mehrfach verändert hatte.
Ein „Hebräer von Hebräern“ und „Pharisäer nach dem Gesetz“ (Philipper 3,5), war (und blieb) er. Ein – wie er sich wenige Verse vor dem Predigtabschnitt selbst bezeichnet (Römer 11,1) – „Israelit, vom Geschlecht Abrahams, aus dem Stamm Benjamin“. Kurzum: ein frommer und gebildeter Jude aus der Oberschicht der Stadt Tarsus im heutigen türkisch-syrischen Grenzgebiet (wo nunmehr seit Jahren schreckliche Kämpfe toben, die unzählige Menschenleben kosteten und Hunderttausende zur Flucht gezwungen haben).
Anfangs mag er wohl, als er von einem umherziehenden Prediger namens Jesus hörte, die Berichte eher schmunzelnd zur Kenntnis genommen haben. Solche Wanderprediger mit unkonventionellen Ansichten und einem eigentümlichen Verständnis der heiligen Schriften gab’s ja immer wieder mal. Meist legte sich der Rummel, der um sie veranstaltet wurde, schnell ganz von selbst.
Doch einige Zeit später musste er feststellen, dass das Ganze doch nicht so ohne Weiteres im judäischen Sande verlief. Und zwar obwohl – oder vielleicht gerade: weil – man diesen Jesus ans Kreuz geschlagen hatte.
Danach hatten nämlich einige seiner Anhänger behauptet, er sei wieder auferstanden. Sie hätten ihn gesehen. Und sie waren sich sicher, dieser Jesus von Nazareth sei der ersehnte Messias. Der Sohn Gottes.
Das war für Saulus, wie er damals meist noch genannt wurde, nun allerdings der Gipfel. Denn damit hatten sie sich in seinen Augen vollends als gotteslästerliche Sektierer erwiesen. Es wurde Zeit, dem Spuk ein schnelles Ende zu bereiten. Und dabei wollte er nicht nur zusehen. Dieser Sache nahm er sich persönlich an.
In den Synagogen wetterte er gegen die Jesusanhänger was das Zeug hielt, sorgte dafür, dass sie aus den jüdischen Gemeinden ausgeschlossen und so manche von ihnen wohl auch gefoltert wurden.
Doch dann, auf dem Weg nach Damaskus, kam es zur wohl bekanntesten Meinungsänderung in seinem Leben. Der auferstandene Christus spricht ihn an und der Eiferer erkennt seine wahre Berufung, zu der ihn Gott schon vor der Geburt ausersehen hatte (Galater 1,15; das mit den Berufungen hatten wir ja letzte Woche – sie erinnern sich), nämlich: Apostel zu sein, Christus zu verkündigen. Sprichwörtlich gesagt: aus Saulus wird Paulus.
Dass er nun mit ebenso großem Eifer Menschen anderen Glaubens Christus ans Herz legen wollte, brachte ihm allerhand Ärger mit seinen jüdischen Glaubensgeschwistern ein.
Man sollte an sich ja meinen, dass ihn das angesichts seines eigenen, nicht lange zurückliegenden Verhaltens, kaum überraschen konnte. Aber dass er nun selbst ausgeschlossen und gefoltert wurde, das verletzte ihn wohl nicht nur körperlich.
Und so formulierte er in seinem ältesten erhaltenen Brief, dem 1. Thessalonicher, Sätze, die eine furchtbare Wirkung entfaltet haben, die zu unfassbaren, unsäglichen, monströsen Verbrechen an Menschen jüdischen Glaubens beigetragen haben. Jahrhundertlang.
Sie nährten den Antijudaismus, der die Kirchengeschichte seit ihren Anfängen durchzog, durch das Mittelalter hindurch über Martin Luther bis weit ins 20. Jahrhundert.
Und manche dieser antijudaistischen Stereotype sind offenbar bis in unsere Tage hinein nicht aus den Köpfen zu kriegen. Eines davon, nämlich die „Juden“ hätten „den Herrn Jesus getötet“ (1. Thessalonicher 2, 15), manifestierte sich, unter viel zu vielem anderen, in eben jenem Text des Oberammergauer Passionsspiels, der erst im Jahr 2000 endlich überwunden werden konnte, besonders ausführlich.
Zunächst mal, nur um hier präzise zu bleiben: es war doch wohl die römische Justiz, die Jesus zur Kreuzigung verurteilte.
Vor allem aber: diejenigen, die über die Zeiten hinweg nicht vom Antijudaismus lassen können, offenbaren damit, dass sie nicht weitergelesen haben bei Paulus. Er hat nämlich seine Meinung wieder geändert und damit nun zu seiner endgültigen Ansicht gefunden.
Und zwar, wie es für einen mit den heiligen Schriften bestens vertrauten Juden naheliegt, nach einem Prozess der intensiven Auseinandersetzung mit den Überlieferungen der hebräischen Bibel. Ausführlich (allein drei Kapitel im Römerbrief, Römer 9-11) schreibt er darüber. Seine Erkenntnisse münden in den Sätzen des Predigttexts.
Es ist ihm deshalb gleich zu Anfang des Abschnitts wichtig, seine Leser vor der Überheblichkeit zu bewahren, an ihren selbstgemachten Ansichten zu dieser Frage festhalten zu wollen. Stattdessen legt er ihnen einen Blick in die Bibel nahe.
Und er entfaltet die Erkenntnis, die er daraus gewonnen hat: Gott hat das Volk Israel zu seinem Volk erwählt. Und diese Erwählung gilt. Sie gilt ganz Israel. Unumstößlich. Gott hält an seinem Bund, den er mit den Erzvätern schloss, fest. Die Menschen aus dem Volk Israel bleiben „Geliebte um der Väter willen“. Gott umfängt sie mit seiner Barmherzigkeit ebenso wie diejenigen, die Christus nachfolgen.
Die jetzige Unterschiedenheit hat einen Zweck und eine Grenze. Dadurch soll Nichtjuden die Möglichkeit gegeben werden, zum Glauben zu finden. Wenn das erreicht ist, soll sie enden.
Wenige Verse vor dem Predigttext veranschaulicht Paulus das Verhältnis zwischen Juden und Christen am Bild eines Ölbaums. Gottes Ölbaum ist in diesem Vergleich sein Volk Israel. Diejenigen, die zum Glauben an Christus gekommen sind, werden als wilde Zweige in diesen Ölbaum eingepropft und so von der Wurzel genährt und getragen.
Die Nahrung, die der Baum gibt, bleibt existenziell unverzichtbar auch für das Christsein. Die hebräische Bibel, das Erste Testament, gehört dazu, genauso wie die Psalmen im Gottesdienst, das Doppelgebot der Liebe und vieles andere mehr.
Und die Perspektive des Glaubens ist, trotz der geschichtlich gewordenen Verschiedenheit, die Einheit, wenn Gott die Zeit zu ihrem Ziel führt.
Für Christen sind, trotz all der zutiefst beschämenden Beispiele, die es dafür in der Kirchengeschichte gibt, antijudaistische Gedanken und Antisemitismus unerträglich. Und die Tatsache, dass im vergangenen Jahr in unserem Land so viele antisemitische Straftaten begangen wurden wie seit 2001 nicht mehr, darunter der Anschlag auf die Synagoge in Halle im Oktober, am Jom Kippur, muss uns solchem zerstörerischen Denken und solchen abscheulichen Verbrechen entschlossen entgegentreten lassen.
Wir sind dabei, wie Paulus klarmacht, verbunden in einer gewissen Zuversicht, die uns ermutigt und stärkt. Sie kommt aus der Zusage Gottes, dass seine Barmherzigkeit bleibt; und seine Liebe.

Bleiben Sie/bleibt alle von Gott behütet.

Herzliche Grüße,

Ihr/Euer

Martin Bach

PS: Seit dem 10. Mai laden wir in der Friedenskirche wieder ganz herzlich zu unseren regelmäßigen Gottesdiensten ein. Im Rahmen des geltenden Hygieneschutzkonzepts bitten wir alle, die teilnehmen möchten, sich bis jeweils zwei Tage vorher beim Pfarramt unter Tel.: 06332/75125 oder per E-Mail anzumelden.

 

Prot. Pfarramt Zweibrücken-Ixheim
Pfarrer Martin Bach
Kirchbergstraße 31
66482 Zweibrücken
Tel.: 06332/75125

E-Mail: pfarramt.zw.ixheim(at)evkirchepfalz.de