Gott schaut auf mich - Gedanken zum Karfreitag

Pfarrer Wolfgang Emanuel: Gott schaut auf mich - Gedanken zum Karfreitag

Gott schaut auf mich - Gedanken zum Karfreitag 2020

„Herr Pfarrer, wir haben daheim das Haus unserer Eltern ausgeräumt. Da hängen fromme Bilder und Kreuze rum. In den Schubladen haben wir Gebetbücher und eine große Bibel ge- funden. Wir wissen nicht, was wir damit machen sollen. Könnten Sie diese gebrauchen oder verschenken?“ - So ähnlich fragen mich manchmal Leute, die noch Respekt vor religiösen Gegenständen haben, weil sie lieben Menschen viel bedeutet haben, sie aber wenig damit anfangen können.
Es hat mich schwer beeindruckt, was eine evangelische Pfarrerin mit einem solchen Kreuz einmal erlebt hat. Sie erzählt:
„Nach einer Wohnungsauflösung bringt mir jemand ein Kruzifix. Nicht besonders wertvoll, aber zu schade um es wegzuwerfen. Nicht menschengroß, aber für mich schwer genug, dass ich es mit beiden Händen tragen muss. Im Gemeindehaus finde ich keinen Platz, also hänge ich es in den Keller unter eine Treppe an einen Haken. Am selben Nachmittag steht plötzlich Mario vor mir. „Ich muss 100 Sozialstunden bei Ihnen in der Kirchengemeinde ab- leisten“, sagt er. Das hat das Gericht festgelegt: Sozialstunden statt Jugendhaft. Erste Aktion mit Mario: Aufräumen im Jugendkeller, dort haben sich etliche Kisten angehäuft. An der Treppe und am Kreuz vorbei wird alles nach draußen getragen. Irgendwann fragt Mario:
„Was hat denn der Jesus im Keller zu suchen? Der gehört doch in die Kirche.“ Ich antworte ihm mit einem Lächeln: „Er hat hier halt ein Auge auf unsere Jugendarbeit.“ Dann erzähle ich ihm von der Wohnungsauflösung. Marios Blick fällt in den nächsten Tagen immer wieder auf das Kreuz unter der Treppe. Als die 100 Sozialstunden abgeleistet sind, fragt er mich: „Kann ich das Kreuz haben?“ „Was willst du damit machen?“ frage ich zurück.
Mario sagt: „Ich hänge es bei mir auf, damit Gott auch auf mich schauen kann.“ Ich schaue Mario an. Dann drehe ich mich um, hebe das Kreuz vom Haken und gebe es ihm. Als Mario über den Kirchhof geht, schaue ich hinterher und denke: Es sieht eigenartig aus, wie er mit dem Kreuz auf seiner Schulter seiner Wege geht.“
Ich saß heute Nachmittag gemeinsam mit über 160 Menschen, die ihre Bilder geschickt haben und die ich in den Bänken der Hl. Kreuz Kirche angebracht habe vor dem Kreuz, das wir jedes Jahr bei der Kreuzverehrung enthüllen. Dabei empfand ich ähnlich wie dieser Mario: Jesus schaut auf mich.
Dieses alte Kreuz ist für mich ein starkes Bild. Von Oben schaut Jesus herab auf die Menschen, wie sie still dasitzen. Wie sie nachdenken, weinen oder vor Freude jubeln. Von oben schaut er herab auf die Gesichter von Alten und Jungen, von Frauen und Männern, von Glücklichen und Traurigen, von Erfolgreichen und solchen, die sich schwertun.
Und von unten schauen Menschen zu ihm hoch, flehen um Hilfe, bitten um Glück und Wohl- ergehen, um Errettung aus Krankheit, Sorgen und Not. Und sehen ihn in seiner Not.
Sein Blick von oben nach unten und unser Blick von unten nach oben. Und unsere Blicke treffen sich. Wir schauen ihn an und er schaut uns an.
In diesem Jahr konnten wir heute am Karfreitag nicht zur feierlichen Kreuzverehrung vor das Kreuz treten und unser Knie beugen. Aber vielleicht haben Sie daheim das Kreuz in Ihrer Wohnung einmal ganz bewusst angeschaut. Vielleicht kamen Ihnen dabei ähnliche Gedanken wie diesem Mario in den Sinn: Ich habe es in meiner Wohnung aufgehängt, damit Gott auf mich schaut und ich möchte hinzufügen, dass ich den Blick auf ihn nicht verliere.
Ich wünsche Ihnen einen besinnlichen Ausklang eines stillen Karfreitags.


Pfarrer Wolfgang Emanuel