Es ist ein Ros entsprungen

Es ist ein Ros entsprungen

Es ist ein Ros entsprungen, so haben wir es vorhin gehört. Dieses wunderschöne Weihnachtslied, quasi eine Vertonung unseres heutigen Predigttextes. Geschrieben in einer Zeit, in der die Israeliten dachten: Bald ist es vorbei.
Der Prophet Jesaja kündigte es an, das Ende. Das Bablonische Exil, das dann ja auch kam. Der Baum wurde gefällt, da wuchs nichts mehr. Die Oberschicht verschleppt ins Babylonische Exil, der Rest weitgehend geflüchtet in die andere Richtung, nach Ägypten. Israel? Nur noch ein abgehauener Baumstumpf. Nichts mehr da. Keine Hoffnung mehr. Keine Zukunft mehr.
Wie so ein abgehauener Baumstumpf fühle auch ich mich in diesen Tagen oft. Nach diesem Corona-Jahr voller Einschränkungen, voller Sorgen, voller nicht mehr gültiger Selbstverständlichkeiten. Hätten wir uns das jemals träumen lassen, dass Geschäfte und Schulen schließen oder dass wir mit großem Abstand, mit Masken und ohne selbst zu singen hier draußen stehen würden an Weihnachten?
Ich brauche Ihnen nicht vorzujammern über dieses seltsame Jahr. Sie kennen das alles. Wie so ein abgehauener Baumstumpf, so komm ich mir manchmal vor. Alles weg, was da so hoffnungsfroh in die Höhe wuchs. Alle Blätter weg, alle Äste. Erschöpfung, Sehnsucht nach Nähe, Angst vor der Zukunft. Müde, kraftlos, Stumpf eben.
Doch dann schreibt der Prophet von der Hoffnung, die über die Zerstörung Israels und Jerusalems hinausgeht. Er schreibt diesen Satz über den Baumstumpf:
Es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen.
Es ist ein Ros entsprungen. Ja, natürlich, Jesaja meint: Das Volk Israel, das ist noch nicht am Ende. Der „Stamm Isais“, das meint die Nachkommen des Isai (oder Jesse), des Vaters von König David.
Es ist ein Ros entsprungen. Jesaja malt eine wundervolle Zukunft für das Volk Israel, ach was, für alle Menschen auf der ganzen Welt. Keinen Streit wird es mehr geben, keine Enttäuschung, keine Erschöpfung, keine Krankheit mehr. Keine Angst. Dieser kleine, frische Trieb aus dem abgehauenen Stumpf – er wird zum Herrscher werden. Auf ihm wird ruhen der Geist des Herrn. Er wird den Frieden bringen und die Gerechtigkeit. Er wird alle miteinander versöhnen. Das muss dann wohl der Himmel sein.
Es ist ein Ros entsprungen? Heute, hier, am Ende dieses irgendwie abgehauenen Stumpf-Jahres stehen wir im Rosengarten, auf Abstand, mit Masken. Heute, hier, hören wir diese Botschaft: Es ist ein Ros entsprungen. Er ist da. Er, der kleine, frische Trieb. Klein und unscheinbar scheint er zu sein. Als kleines Kind kommt er in die Welt, in einer Krippe liegt er – und verändert doch die Welt. So, wie das schwache Licht unserer Kerzen die Umgebung erhellt – so macht dieses Kind in der Krippe die Welt ein wenig heller.
Wir Menschen sind ungeduldig. 2000 Jahre ist das nun her. Wann kommt es denn endlich, dieses Friedensreich? Wann wächst es endlich? Ich glaube, es ist schon da. Hier, bei uns. Da, wo wir aufeinander achtgeben. Da, wo wir schweren Herzens Abstand halten, um einander nicht zu gefährden in diesen Tagen. Da, wo die Nachbarin mal nachfragt, wie’s einem geht, und nicht nur eine Floskel als Antwort bekommt. Da, wo wir es schaffen, trotz Masken ein Lächeln zu verbreiten. Da, wo wir denen helfen, die jetzt gerade kein Einkommen haben, und denen, die kein Dach über dem Kopf haben. Da, wo wir uns weltweit vernetzen, um auch in anderen Ländern die Armut zu bekämpfen. Da, wo Schiffe auf dem Mittelmeer unterwegs sind, denn man lässt niemanden ertrinken.  Da, wo wir denen helfen, die in Not sind, egal, welcher Herkunft. Da, wo wir jeden Tag neu den Frieden und die Versöhnung suchen.
Da enstpringt der neue Trieb des Friedens.
Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war? Weihnachten war noch nie so, wie es dieses Jahr ist. Und ich bin kein Prophet. Aber ich sage, dass wir in einem oder in zwei Jahren oder irgendwann an dieses Weihnachten des Jahres 2020 zurückdenken werden, wenigstens einige von uns, und uns sagen: Wann wird es endlich wieder so? Denn neben allem, was uns so furchtbar belastet und bedrängt, sehe ich auch vieles, was kein Schaden ist. Ich sehe, was gut war an diesem schlimmen Jahr:
Dass wir so deutlich wie nie zuvor erkannt haben, wo die Bosheit oder meinetwegen auch nur die schlichte Dummheit wohnen in unserer Gesellschaft und in unserer Welt.
Und dass der uralte Wunsch der Propheten nach einem Herrscher, auf dem der Geist der Weisheit und des Verstandes ruht, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des Herrn gar kein alter Wunsch ist, sondern ein Wunsch, höchstens so alt wie die Welt. Durch alle Zeiten treibt er aus der gleichen Wurzel, aus der Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit. Und dieser Wunsch sieht manchmal aus wie ein Baum, der immer weiterwächst und sich verzweigt und kaum Blüten trägt und nie Früchte.
der Wunsch – ein sich verzweigender Baum ohne Früchte?
Ich glaube, das liegt an einem Missverständnis. Das ist auch so alt wie die Welt: Dass es einer alleine richten könnte statt wir alle zusammen. Diese Weisheit und diesen Verstand, diesen Rat und diese Stärke, diese Erkenntnis und auch diese Furcht des Herrn hat uns dieses Jahr der Pandemie gegeben. Es hat sie uns nicht geschenkt, dafür ist das alles viel zu schlimm. Aber Pandemie heißt nun einmal wörtlich „alles Volk betreffend“. Und wo nicht nur eines, sondern alle Völker betroffen sind, da wird es erst recht nicht nur einer oder eine richten können. Sondern nur wir alle zusammen. Das haben wir verstanden. Und etwas von dieser Weisheit ruht nun auf uns allen.
Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war? Zu der Zeit, als Jesus geboren wurde in Bethlehem, in der Stadt Davids, da wurde es so, wie es nie zuvor war. Da wurde die Liebe Gottes zu einer Pandemie, zu einer Liebe, die allen Völkern galt. Die Wurzel bleibt immer die gleiche „denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt“. Aber ein neues Reis wurde angesetzt, ein wilder Zweig. Er trägt die Wurzel nicht. Aber die Wurzel trägt ihn. Und aus diesem Zweig stammen wir.
die Frucht von dem sehen, was unter uns gewachsen ist
Ich bin kein Prophet. Aber mein Wunsch an diesem Weihnachten ist, dass wir die Frucht von dem sehen, was in den vergangenen Monaten unter uns an Weisheit und Verstand und Rat und Stärke und Erkenntnis und auch an Furcht des Herrn gewachsen ist. Auch unter den großen Lasten, die wir zu tragen hatten. Damit es unter uns so bleibt, wie es nie war.
In diesem Sinne Frohe und Gesegnete Weihnachten.

Predigttext Jesaja 11,1-10

Geistbegabung und Herrschaft des Sprosses Isais

1 Doch aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht. 2 Der Geist des HERRN ruht auf ihm: der Geist der Weisheit und der Einsicht, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des HERRN. 3 Und er hat sein Wohlgefallen an der Furcht des HERRN. Er richtet nicht nach dem Augenschein und nach dem Hörensagen entscheidet er nicht, 4 sondern er richtet die Geringen in Gerechtigkeit und entscheidet für die Armen des Landes, wie es recht ist. Er schlägt das Land mit dem Stock seines Mundes und tötet den Frevler mit dem Hauch seiner Lippen. 5 Gerechtigkeit ist der Gürtel um seine Hüften und die Treue der Gürtel um seine Lenden. 6 Der Wolf findet Schutz beim Lamm, der Panther liegt beim Böcklein. Kalb und Löwe weiden zusammen, ein kleiner Junge leitet sie. 7 Kuh und Bärin nähren sich zusammen, ihre Jungen liegen beieinander. Der Löwe frisst Stroh wie das Rind. 8 Der Säugling spielt vor dem Schlupfloch der Natter und zur Höhle der Schlange streckt das Kind seine Hand aus. 9 Man tut nichts Böses und begeht kein Verbrechen auf meinem ganzen heiligen Berg; denn das Land ist erfüllt von der Erkenntnis des HERRN, so wie die Wasser das Meer bedecken.
Die Sammlung des Rests aus der Zerstreuung
10 An jenem Tag wird es der Spross aus der Wurzel Isais sein, der dasteht als Feldzeichen für die Völker; die Nationen werden nach ihm fragen und seine Ruhe wird herrlich sein.