Befreiend - zum Gründonnerstag

Liebe Damen und Herren,

seit dem heutigen 8. April dürfen wieder Menschen aus Wuhan ausreisen. 76 Tage lang war die chinesische 11 Millionen-Metropole, die von vielen für den Ausgangspunkt der weltweiten Corona-Pandemie gehalten wird, fast vollständig abgeschottet.
Die chinesische Regierung hat verlauten lassen, sie rechne damit, dass jetzt, nach der Lockerung der Quarantäne-Maßnahmen, rund 50.000 Personen die Stadt verlassen werden. Unter ihnen seien viele, die eigentlich aus anderen Regionen Chinas kommen, in Wuhan „gestrandet“ seien, als die Stadt abgeriegelt wurde und nun wieder nach Hause möchten. Einen Exodus aus Wuhan werde es dennoch nicht geben.
Ob sich das für die Menschen in Wuhan nach Befreiung anfühlt? Um einen neuen Anstieg der Infektionszahlen zu verhindern, braucht, wer von dort weg möchte, dazu eine individuelle Genehmigung der Behörden (grünes Licht auf einer Handy-App) und er oder sie kommt auch nicht so einfach in eine andere Stadt oder Provinz Chinas hinein und kann sich dort bewegen; vielerorts wird zuvor eine 14tägige Quarantäne und / oder ein Test verlangt.
Befreit – so fühlt sich in diesen Tagen wohl kaum ein Mensch auf der Welt. Entsprechend groß ist die Sehnsucht danach: befreit zu sein von der Sorge darum, dass die Familie und die Freundinnen und Freunde gesund bleiben, dass diejenigen, die sich angesteckt haben, gesund werden, befreit zu sein von der Sorge um den Arbeitsplatz, um das finanzielle Auskommen, um die wirtschaftliche Entwicklung, um den Zusammenhalt der Länder in Europa, der gerade für unsere Region eine so große Bedeutung hat.
Die Sehnsucht nach Befreiung, liebe Schwestern und Brüder, prägte auch das Lebensgefühl der Menschen, die durch die Worte angesprochen wurden, die der Predigttext zum Gründonnerstag (den ich wieder als .pdf beifüge) überliefert.
Lange waren sie, die Israeliten, als Zwangsarbeiter in Ägypten festgehalten worden. Strikt hatte ihnen der König von Ägypten, der Pharao, jede Ausreisegenehmigung verweigert. Doch aus einem brennenden Dornbusch heraus hatte Gott versprochen, sein Volk zu befreien und zu führen. Mose hatte er dazu berufen, diese Nachricht weiterzuverbreiten und den Exodus, den Auszug, zu leiten. Den Ägyptern schickte Gott beängstigende Plagen, um den Pharao dazu zu bewegen, die Israeliten gehen zu lassen.
Noch sind sie unfrei in der ägyptischen Sklaverei, als Gott wieder zu Mose und Aaron spricht. Er gibt ihnen ausführliche Anweisungen für eine ganz spezielle Abendmahlzeit. Sie muss reisefertig eingenommen werden, mit dem Wanderstock in der Hand und den Schuhen an den Füßen. Denn es geht los. Befreiung. Es ist der Aufbruch in eine neue Zeit, wie dadurch sinnfällig wird, dass die Monate des Jahres neu gezählt werden sollen.
Bis zum heutigen Tag erinnern gläubige Jüdinnen und Juden an diese Geschichte, wenn sie den Sederabend, den Vorabend und Auftakt des Passafests, miteinander feiern und eine genau festgelegte Speisefolge einnehmen. Die Kinder fragen dabei: „Warum ist dieser Abend anders als alle anderen?“ Worauf die Erwachsenen antworten: „Weil wir Sklaven des Pharao in Ägypten waren und Gott uns befreit hat.“
Es ist kein Zufall und vermutlich auch ganz zutreffend, dass in der christlichen Kunst viele Darstellungen des letzten Abendmahls an die besondere Mahlzeit im Umfeld des Passafests erinnern.
Am morgigen Gründonnerstag denken wir daran, wie Jesus am Vorabend seines Todes mit seinen Jüngern zu Tisch saß. Ein Fest unter bedrückenden Vorzeichen. Wer der Verräter sein wird, wollen sie wissen. Ein Abbruch steht bevor. Der irdische Weg Jesu wird abbrechen. Lässt sich da noch auf einen Aufbruch hoffen?
Jesus jedenfalls spricht in seiner Tischrede von der Zukunft. Seine Jünger stärkt er damit ebenso wie mit Brot und Wein. Und er gibt ihnen den Auftrag, Gemeinschaft zu halten und zu stiften.
Das letzte Abendmahl Jesu ist die Mahlzeit am Vorabend der Befreiung. Bei jeder Befreiung gibt es zwei Aspekte. Ein „wovon“ und ein „wozu“.
Das „wovon“ dieser Befreiung: In Christus, in seinem Kreuz, werden wir durch Gottes freie Selbstbeschränkung befreit von dem, womit wir uns von ihm getrennt haben. Es ist vergeben.
Das „wozu“: wir werden befreit zur Gemeinschaft mit Christus und untereinander. Und wir werden befreit zur Hoffnung.
Nicht immer fühlen wir uns befreit. Aber durch Christus haben wir allen Anlass zur Hoffnung darauf, dass Gott auch dann bei uns ist. Zur Hoffnung darauf, dass er bei denen ist, die – nicht nur in Zeiten von Kontaktbeschränkungen – alleine am Tisch sitzen, dass er bei denen ist, denen eine Krankheit Einschränkungen auferlegt, dass er bei denen ist, die sich Sorgen machen – um andere oder um sich selbst. Zur Hoffnung darauf, dass Gott mit uns geht, wie er mit den Israeliten unterwegs war und blieb bei ihrem Aufbruch in die neue Zeit.
Unsere Gründonnerstagsgemeinschaft wird in diesem Jahr anders aussehen. Wir können leider nicht zum Tischabendmahl zusammen sitzen. Dennoch können wir Gemeinschaft haben. Gemeinschaft im Gebet und in der Hoffnung.
Ich freue mich auf die Gemeinschaft und die Verbundenheit mit Ihnen und Euch allen, wenn morgen (und auch an den weiteren Tagen) unsere Glocken läuten.
Bleiben Sie alle gesund.
Bleiben Sie alle von Gott behütet und gesegnet.

Herzliche Grüße,

Ihr
Martin Bach